Ebbes aus Hohenlohe

Emotionen als echte Bereicherung

Fast vier Wochen verbrachte Moritz Pollak Coelho aus Gerabronn abgeschottet von der Außenwelt bei Big Brother im Container. Der Schlafentzug und die Streitereien der Bewohner untereinander waren zu viel für ihn. 

„Wir amüsieren uns zu Tode“, urteilte der Medienwissenschaftler Neil Postman Anfang der 1980er Jahre. In seinem Buch stellte er schon damals fest, dass der Fernsehkonsum die Zuschauerinnen und Zuschauer zu ungebildeten, schlecht informierten Konsumenten macht, die nicht mehr in der Lage sind, ernsthaft zu diskutieren. Er diagnostizierte den Verfall menschlicher Werte durch die totale Vergnügungssucht. 1985, als das Buch erschien, gab es Big Brother noch gar nicht, die Reality-Show lief in Deutschland erstmals im Jahr 2000. Derzeit ist die 14. Staffel auf Sat1 und beim Streaming-Anbieter Joyn zu sehen. Mit dabei war Moritz Pollak Coelho aus Gerabronn – inzwischen hat er das Container-Studio wieder freiwillig erlassen.

Der 24-jährige Fachinformatiker bezeichnet sich selbst als „Rampensau“ und sucht den Weg in die Öffentlichkeit. Er hatte bereits einen Instagram- und einen TikTok-Account, auf denen er kleine Filmchen für eine wachsende Fangemeinde postete. Im Herbst letzten Jahres hatte er „Lust auf ein neues Projekt“ und bewarb sich bei Big Brother. „Ich hatte mich vorher nicht wirklich intensiv mit dem Format beschäftigt“, erzählt er nach seinem Ausstieg. „Das war wahrscheinlich ein Fehler, weil ich dachte, dass da mehr Party ist.“ Eigentlich wollte er gar nicht zu Big Brother, sondern sah die Show nur als eine Möglichkeit, ins Fernsehgeschäft einzusteigen und erste Erfahrungen zu sammeln.

Nachdem er die verschiedenen Stufen des Castings durchlaufen hatte, wuchsen seine Aufregung und seine Erwartungen von Tag zu Tag. Anfang Februar kam dann der Anruf mit der Zusage. „Ich habe mich mega gefreut.“ Dann ging alles ganz schnell: Er musste sein bisheriges Leben organisieren und seine Koffer für 100 Tage packen, denn am 4. März sollte er einziehen. „Das war schwierig, weil ich niemandem sagen durfte, dass ich bei Big Brother dabei sein werde“, erinnert er sich. Schließlich fuhr er nach Köln-Bocklemünd. Auf dem Produktionsgelände, direkt neben den Kulissen der „Lindenstraße“, steht das Studio von Big Brother. Bevor Moritz Pollak Coelho in den Container einzog, kannte er keinen der anderen Kandidatinnen und Kandidaten. Mit ihnen sollte er 100 Tage auf engstem Raum, bei rationiertem Essen und mit viel Konfliktpotenzial verbringen. „Als ich vom Hotel ins Studio kam, ging es direkt von null auf hundert.“ Es sei komisch gewesen, die Tür aufzumachen und nicht zu wissen, was einen erwartet.

Jeder der anderen Teilnehmer wollte sich so gut wie möglich präsentieren, die Rolle spielen, die sie sich vorgenommen hatten. „Durch die teilweise sinnlosen Spiele, den Essens- und Schlafentzug wurden wir aber schnell geerdet“, stellt der 24-Jährige fest. Die Produzenten des Voyeur-Formats – 60 Kameras beobachten die 17 Bewohnerinnen und Bewohner Tag und Nacht – verhindern durch späte Ruhe- und frühe Weckzeiten einen erholsamen Schlaf: „Wenn ich geschlafen habe, dann tief und fest, aber nicht lange.“ So leidet er schon nach wenigen Tagen unter Schlafmangel. „Ich kann den Weckruf ,Bewohner, startet Euren Tag aktiv‘ nicht mehr hören“, macht er im Gespräch deutlich. „Auf das wenige Essen hatte ich mich im Vorfeld eingestellt, auf das Thema Schlaf war ich nicht vorbereitet.“

Das „größte Sozialexperiment Deutschlands“, wie Big Brother von anderen Medien tituliert wird, kommt bei den Zuschauerinnen und Zuschauern allerdings nicht gut an: Zum Start der Show schalteten nicht einmal eine Million Menschen den Fernseher ein. In den ersten Wochen sank die Zahl auf unter 350.000. Dies habe vor allem mit der Ausstrahlung auf dem Abo-TV-Sender Joyn und der späten Sendezeit im frei empfangbaren Fernsehen zu tun, war aus Branchenkreisen zu hören. Die Entscheidung, vor allem auf Online-Medien zu setzen, scheine nicht aufzugehen.

Im Rückblick verschwimmen für den Gerabronner die einzelnen Tage: „Wir hatten unter der Woche nicht viel zu tun, da waren die Challenges, die wir bekommen haben, eine willkommene Abwechslung.“ Aus den immer heftiger werdenden Scharmützeln zwischen den einzelnen Insassen versuchte er sich möglichst herauszuhalten. „Bei vielen Mitbewohnern lagen die Nerven blank und dann hat man sich wegen Kleinigkeiten gestritten“, wundert sich Moritz Pollak Coelho noch heute. „Dass man sich bei uns in Mitteleuropa wegen des Essens in die Haare kriegt, hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Jeden Abend wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einzeln befragt, meist zu den Ereignissen des Tages – ihre Antworten wurden dann in den Tageszusammenfassungen gesendet. Der Fachinformatiker hat in den knapp vier Wochen im TV-Gefängnis seine Grenzen gefunden: „Abschottung, kein Kontakt nach außen, das Zusammenleben mit fremden Menschen auf engstem Raum, das sind Erfahrungen, die ich nicht missen möchte“. Eine „echte Bereicherung“ sei es, „positive und negative Emotionen in einem Ausnahmezustand zu erleben“. Der Schlafentzug und die ewigen Streitereien haben ihm dagegen die Zeit im Container verdorben: „Ich wollte Spaß haben, wollte zeigen, wer ich bin. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten“, lautet sein Fazit. So zog er den Schlussstrich und verließ die selbstgewählte Isolation, „ich bereue die Entscheidung nicht“. Bei der Zielgruppe kam er an, seine Beliebtheitswerte stiegen zuletzt deutlich. „Das positive Feedback hat mich total überrascht, denn im Container bist du von allem abgeschnitten.“ Diesen Effekt will er mitnehmen und auf seine Online-Präsenz übertragen: Gemeinsam mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen kommentiert er das Geschehen im Container und gewinnt immer mehr Follower.

Er kehrt zunächst in seinen Job als Fachinformatiker zurück, will aber weiterhin zum Fernsehen gehen. „Ich bin für alle Angebote und Formate offen“. Big Brother sei sicher die längste und härteste Show in Deutschland, da seien die anderen keine wirkliche Herausforderung mehr. „Ich habe die Öffentlichkeit gesucht und gefunden.“ th

Zur Info:

In der Fernsehshow Big Brother werden 17 Personen 100 Tage lang in Containern von der Außenwelt isoliert. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können die Insassen bei all ihren täglichen Aktivitäten beobachten. Der einzige Kontakt zur Realität besteht über „Big Brother“, die Stimme des produzierenden Senders Sat1 bzw. des Streaminganbieters Joyn. Die Produzenten stellen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Aufgaben. So erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel eine größere Essensration oder die Möglichkeit, Kolleginnen und Kollegen zu „nominieren“. Einmal pro Woche darf das Publikum entscheiden, wer von den Nominierten den Container verlassen muss. Wer nach 100 Tagen als Letzter übrig bleibt, gewinnt 100.000 Euro.

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